Geschichten
       
       
 

Abgestürzt

Es regnete und der Asphalt der Straße schimmerte in grau, so wie die Wolken am Himmel. Ebenso trist zeigten sich die Fassaden der Häuser, zwischen denen Robert und seine Freunde ziellos hindurch schlenderten. Tomeck, der sie in der Schule regelmäßig mit Latein langweilte, war krank und sie hatten eine Stunde frei bekommen. Roberts Blick folgte Dilara, die zwei Meter vor ihm lief. Sie erschien wie ein Sonnenstrahl in dem tristen Wetter. Ihre glatte, etwas dunklere Haut glänzte im Regen und ihr langes schwarzes Haar fiel über ihren traumhaften Körper. Robert liebte sie heimlich, traute sich aber nicht ihr das zu gestehen, obwohl er sonst nicht auf den Mund gefallen waren. Dilara unterhielt sich mit der etwas kräftigeren Katja. Robert selbst wurde von Hannes vollgelabert, der plötzlich abrupt stehen blieb.

"Hey, lasst uns die alte Hütte da drüben mal abchecken!" rief er den Mädchen hinterher. Er zeigte auf einen alten leerstehenden Plattenbau. Hannes hatte oft solche unerwartet Ideen gegen die Robert meist nichts einzuwenden hatte und Dilara und Katja folgten ebenfalls. Der Plattenweg, der zu dem alten Gebäude führte, wurde schon wieder von Gras und Unkraut durchdrungen und an den Hauswänden bröckelte bereits der Putz. Graffitikünstler hatten sich zum Teil an den Wänden zu schaffen gemacht und mal mehr mal wenig schönere Gemälde zurückgelassen. Im Inneren pfiff der Wind durchs Haus und die meisten Türen waren herausgerissen. Es war feucht und kühl und besonders Katja fröstelte es als sie das Gebäude betrat. Unbehagen machte sich in ihr breit und sie hielt es für keine gute Idee mehr das Gebäude zu erkunden. Sie sagte jedoch nichts, da sie keine Spielverderberin sein wollte. Über die noch weitgehend intakte Treppe kletterten die vier, dann Stockwerk für Stockwerk nach oben. Nur ab und an mussten sie aufpassen, dass sie nicht über losen Schutt stolperten und das Geländer erweckte auch keinen sonderlich stabilen Eindruck mehr. Lachend und scherzend zogen Dilara, Robert und Hannes nach oben. Vor allem Hannes machte sich ein Spaß daraus die anderen aufzuziehen. Sein blonder Lockenkopf wippte im Rhythmus seiner Schritte, während sein großes Mundwerk ununterbrochen arbeitete. Die Einzige die nicht lachte und nichts sagte war Katja. In einigem Abstand folgte sie und ließ die anderen zuerst die Stabilität der Treppe testen.

Nach ein paar Stockwerken, es mag das dritte gewesen sein, verließ Hannes die Treppe und die anderen folgten ihm in eine Wohnung bis Hannes plötzlich abrupt stehen blieb. Vor ihm klaffte ein riesiges Loch im Boden und er konnte das zwei, drei Meter unter ihm liegende Stockwerk sehen. Dort fand sich leicht versetzt erneut ein Deckendurchbruch. Kurze Zeit hatte es Hannes die Sprache verschlagen und leicht nervös nestelte er an seiner Jackentasche um eine Zigarette hervorzuziehen.
"Gib mir mal Feuer!", wand er sich dann an Robert und dieser hatte sein Feuerzeug sofort griffbereit. Er rauchte selbst nicht, aber vielleicht würde er das Feuerzeug ja noch mal irgendwann für etwas gebrauchen können, was nicht nur Hannes zu gute kam. Hannes zog zweimal an seiner Zigarette und fand dann seine Sprache wieder.
"Hey scheiße, seht ihr das Loch hier?! Man ich wär´ fast durchgekippt und draufgegangen."
Robert trat einen Schritt nach vorne und begutachtete das Loch genauer.
"Stell dich nicht so an! So tief geht es da auch nicht runter.", lachte er dann Hannes ins Gesicht.
"Ach ja?! Ich wette du traust dich nicht da runter zu springen!" konterte Hannes. Jetzt wurde Robert etwas mulmig, aber er wollte sich vor Dilara keine Blöße geben und die lächelte ihn ermutigend an. Langsam ging er noch näher an das Loch heran.
"Man lasst den Scheiß!" mischte sich jetzt Katja mit nervöser Stimme ein und strich sich mit einer fahrigen Bewegung ihr blondes Haar hinter die Ohren.
"Verdirb uns nicht unseren Spaß, Kleine! Komm Robert ...", und noch ehe Hannes zu Ende sprechen konnte, drückte sich Robert vom Boden ab und sprang. Nach wenigen Sekunde knallte er hart im Geschoss unter ihnen auf. Dabei verlor er das Gleichgewicht, rollte nah an den nächsten Deckendurchbruch heran und schien schon Halt gefunden zu haben, als plötzlich der morsche Boden nachgab und er weiter nach unten stürzte, dort durch einen weiteren Deckendurchbruch fiel und schließlich nach etwa zehn Metern seitlich auf einen Schutthaufen aufschlug. Die anderen hörten oben nur noch einen leisen Knall.

Geschockt warfen sich Hannes und Dilara Blicke zu und blieben wie angewurzelt stehen. Dilara kullerten Tränen über ihr schönes Gesicht. Katja reagierte als Einzige, rannte die Treppe hinunter, zog ihr Handy aus ihrer kleinen Handtasche und alarmierte einen Krankenwagen. Im Erdgeschoss brauchte sie eine Weile um Robert ausfindig zu machen und fand ihn schließlich stöhnend auf dem Schutthaufen. Erleichtert stellte sie fest, dass er noch bei Bewusstsein war. Einzig das Gesicht war leicht schmerzgekrümmt. Robert richtete seinen Blick in das picklige und jetzt leicht verschwitzte Gesicht von Katja. Noch nie war er so glücklich sie zu sehen und lächelte sie dankbar an. Er hatte Glück gehabt und nur seine rechte Hand schien bei dem Sturz etwas abbekommen zu haben, doch der Schock war noch groß und es tat gut ein vertrautes Gesicht zu sehen. Katja war jedoch schnell vergessen als Dilara hinter ihr auftauchte und sich neben ihm niederkniete. Ihre Wangen waren noch feucht von den Tränen und sie schaute ihn so lieb an, dass Robert sich ermutigt fühlte und ihr die Tränen vorsichtig aus dem Gesicht strich. Dilara ergriff darauf seine Hand und ein warmer Schauer durchlief ihn. Er hob seinen Kopf leicht an und schaute direkt in die großen braunen Augen Dilaras. Ihre Lippen näherten sich langsam den seinen und sie küssten sich. Robert fühlte sich so glücklich wie nie zuvor. Im Moment seines größten Glücks spürte er dann plötzlich, wie sich etwas warmes an seinem Hinterkopf ausbreitete und schon entglitt er den Lippen Dilaras und sank zu Boden. Er sah noch wie ein besorgter Ausdruck auf Dilaras bezauberndes Gesicht trat, schloss seine Augen und öffnete sie nie wieder.

© Lars Rindfleisch

Zur Information: Die Geschichte ist frei nach einem Zeitungsartikel in dem der Abstürzende überlebt und sich nur die rechte Hand verletzt.

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