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Die Reise des alten Manns
Es begab sich vor nicht allzu
langer Zeit, dass in Biebrich, einem kleinen Ort
Mitten in deutschen Landen, die Briefkästen
verschwanden und es auch der Telefonzellen nicht
mehr viele gab. Neuerdings gab es dafür Palmen
in Biebrich, denn die Straßenlaternen hatten
beschlossen, nicht mehr Straßenlaternen, lieber
Palmen zu sein.
An einem schwülen Abend, das Thermometer zeigte
noch immer weit über 30 Grad, zeigte sich in
einer der wenigen Telefonzellen ein alter Mann,
der ein Gespräch führte, das in den Ohren der
heutigen Zeit wie eine satte Lüge klingt.
Es erweist sich als überflüssig das Gespräch
in seiner Gänze auszuführen, denn es hatte nur
wenig Interessantes zu bieten. Der alte Mann
sprach über tropische Temperaturen, von
Dattelpalmen und einer romantischen Bootsfahrt
auf dem Rhein, die er in allen ihren langweiligen
Details schilderte.
Nur die Begegnung mit einem Hai, der den alten
Mann die Bootsfahrt über begleitete bot
kurzzeitig Spannung, doch auch nur so lange bis
der alte Mann von Alfred erzählte, einem
Fischer, der zu berichten wusste, dass die
Rhein-Haie allesamt friedlicher Art waren.
Aus Sicht der heutigen Zeit liegt es nahe den
alten Mann für einen Lügner zu halten. Palmen
Mitten in deutschen Landen? Tropisches Wetter in
Biebrich? Ein Hai im Rhein?
Manche Menschen machen es sich so zur Aufgabe
nach der Wahrheit hinter den vermeintlichen
Lügen zu suchen.
Wir wollen diesen Fehler nicht machen dort eine
Lüge anzunehmen wo die Wahrheit gesprochen wird.
Suchen wir also nicht nach der Lüge, sondern
erinnern wir uns der Wahrheit.
Der alte Mann befand sich auf einer Reise, die
ihn ins Biebrich jener Tage geführt hatte. Er
reiste nicht per Schiff und Bahn, reiste auch
nicht auf fliegendem Teppich oder Koffer und
bewegte sich auch nicht in der Zeit nach vorne
oder hinten. Der alte Mann reiste ganz schlicht.
Einmal im Jahr verließ er sein Haus, küsste
zuvor noch seiner Frau auf die Stirn, und reiste
dann zur nächsten Telefonzelle. Von dort aus
rief er bei seiner Frau an und erzählte von
seiner Reise. In jenem Jahr also von Palmen und
Temperaturen von weit über 30 Grad, während vor
seiner Telefonzelle eine Straßenlaterne brannte
und die Fensterscheiben der Autos vereist waren.
War die Reise also doch eine Lüge? Nein, denn
der alte Mann sah keine Straßenlaterne, sondern
eine Palme, und er erfühlte 30 Grad dort wo
Minustemperaturen herrschten. Sein Kopf wähnte
sich dabei in einem Boot auf dem Rhein, den er
von der Telefonzelle aus nur erahnen konnte. Der
Fischer Alfred hingegen wartete vor der
Telefonzelle und trug den Hai auf seiner
Wollmütze.
Es begab sich vor nicht allzu langer Zeit,
dass sich ein alter Mann auf Reisen begab. Er
reiste nicht per Schiff und Bahn, reiste auch
nicht auf fliegendem Teppich oder Koffer und
bewegte sich auch nicht in der Zeit nach vorne
oder hinten. Der alte Mann reiste ganz schlicht,
er reiste in Gedanken.
Er ging allein auf diese Reisen, vergaß dabei
jedoch jenen Menschen nicht den er über alles
liebte, seine Frau. Es war ihm nicht möglich sie
mit auf seine Reisen zu nehmen, da er sie aber
dennoch daran Teil haben lassen wollte führte
den alten Mann jede seiner Reisen auch zu einer
Telefonzelle um seiner Frau von seinen
Erlebnissen zu berichten.
Der alte Mann entdeckte Telefonzellen mitten im
Ozean, am Nordpol, in einer Hobbithöhle auf
Mittelerde, auf dem Mond und gar einmal in einem
Haifischbauch, in dessen Inneren Jonas und
Pinocchio eine Partie Schach spielten.
Hatte er dann mit seiner Frau gesprochen und den
Telefonhörer eingehängt, verließ er die
Telefonzelle, kehrte schweren Schrittes nach
Hause zurück, setzte sich in seinen
Schaukelstuhl und küsste zuvor noch seiner Frau
auf die Stirn.
Diese Reisen strengten den alten Mann an, aber
solange es noch Telefonzellen gab und der alte
Mann hatte stets eine Idee davon, ging er weiter
auf Reisen und solange er weiter auf Reisen ging
gab es auch in Biebrich Palmen.
Der alte Mann ist längst verstorben und
niemand vermutet mehr Palmen in Biebrich. Aber es
hat sie gegeben und mit etwas Phantasie werden
auch wir sie eines Tages wieder entdecken.
Das ist die Wahrheit.
© Lars Rindfleisch
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