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Anders als andere
Am zweiten Wochenende im Juni saß Cosima
Graeff auf einer Bierbank am oberen Ende der
Wilhelmstraße und aß eine Ente für siebzehn
Euro. Ihr Mann Friedrich Graeff, der Besitzer
eines kleinen Weinguts im Rheingau, saß neben
ihr und schlürfte ein Glas Champagner. Cosima
Graeffs graues Haar lockte unter ihrem
breitkrempigen Hut hervor und eine weiße
Perlenkette schmiegte sich an ihre
braungebrannte, nicht mehr ganz straffe Haut.
"Diese Ente schmeckt delikat." Cosima
Graeff sah Friedrich an. "Willst du nicht
auch ein Stück kosten?".
"Schau dir mal den scharfen Hut da an und
die Perlenkette." Chiara war fasziniert was
für Menschen sich in Wiesbaden auf dem
Wilhelmstraßenfest rumtrieben. "Und wie sie
die Ente isst, mit Messer und Gabel. Ne
Currywurst würde doch besser auf ein
Straßenfest passen." Chiara strich sich
eine Haarsträhne aus ihrem nicht hässlichen,
aber auch nicht hübschen Gesicht und nippte an
einer Erdbeerbowle. "Wenn ich jetzt Ente
essen müsste, würde ich mir nur mein Outfit
bekleckern." Sie schaute auf ihr rotes Top
unter dem sich ihre noch nicht ganz ausgereiften
Brüste abzeichneten.
"Aber auch ohne Ente hast du dir bereits
deine Baggy-Pants bespritzt." Nicole grinste
erst zu Chiara, die erschrocken auf ihre Hosen
starrte ohne dort einen Fleck zu entdecken, dann
zu Tine.
"Sehr witzig." Chiara schaute ihren
beiden Freundinnen hinterher, die bereits
kichernd weiterschlenderten.
Zur gleichen Zeit zog Basti bewaffnet mit
einem Sixpack Bier ins untere Ende der
Wilhelmstraße ein. Er sah die Menschen nicht,
die an ihm vorbeiströmten und hatte keinen Blick
für die Büdchen am Straßenrand, die Essen und
andere Waren feil boten. Auch die Musikbühnen
interessierten ihn nicht, egal ob Jazz, Folklore
oder Pop. Basti kannte nur ein Ziel: ein
Besäufnis unter Freunden.
Cosima Graeff hatte inzwischen ihre Ente
aufgegessen und trank mit ihrem Friedrich ein
Glas Champagner. Schon jetzt kam sie ins
Schwanken als sie sich erhob um die Waschräume
aufzusuchen. Den Toilettenwagen meidend kehrte
sie kurzer Hand in eine Bar ein, in der die
Kellner weiße Hemden mit gestärkten Kragen
trugen.
"Schon wieder so arme Typen, kommen nur
her um sich abzufüllen." Mühsam hatten
sich Chiara und ihre Freundinnen durch die
Menschenmenge zum Warmen Damm, einer kleinen
Parkanlage hinter dem Staatstheater, geschoben.
Dort entdeckte Tine eine Gruppe von Jungs, die
gerade mit Bier anstießen. Chiara grinste, ihr
waren diese Typen egal.
"Schaut mal, wie es scheint bekommen sie
Zuwachs." Sie entdeckte einen etwas
kräftigeren Jungen mit kurzen blonden Haaren,
der auf die anderen Jungs zu ging.
"Gefällt dir der Typ etwa?", fragte
Tine.
"Nee, woher denn.", antwortete Chiara.
"Lass uns weitergehen!".
Basti lief auf dem Schlachtfeld ein und sah,
dass seine Freunde bereits den Kampf aufgenommen
hatten. Leere Bierflaschen lagen auf dem Boden
zerstreut und seine Freunde setzten bereits zum
nächsten Zug an. Das hieß er musste Gas geben.
Noch nicht ganz bei seinen Freunden angekommen,
riss er die Pappe des Sixpacks auf und
enthauptete die erste Flasche mit einem
Feuerzeug.
"Mensch da bist du ja endlich.",
begrüßte ihn Holger. "Hast du die
Teenie-Puppen eben noch gesehen? Die eine im
roten Top sah ja ganz süß aus. Ziemlich kleine
Dinger hatte sie allerdings."
"Hey komm hör auf, die drei sollten lieber
noch im Sandkasten spielen, als sich wie Barbies
aufzustylen.", entgegnete Timo.
"Eben, vergiss die Weiber, diese Tussen
sehen doch eh alle gleich aus. Lass uns lieber
saufen.", sagte Basti und trank endlich den
ersten Schluck Bier. So ein Flaschenhals hatte
gewiss auch etwas Erotisches.
Eine Stunde später flanierte Cosima Graeff
mit ihrem Friedrich über den Warmen Damm. In der
Bar war sie nach Verlassen der Waschräume an
zwei Gläsern Martini hängen geblieben und wäre
noch immer dort, hätte ihr Friedrich sie nicht
wiedergefunden und ihr geholfen sich wankend vom
Barhocker zu erheben.
Ihr Weg sollte Cosima und Friedrich Graeff jetzt
vorbei an den Fahrgeschäften zum Theaterparkhaus
führen, in dem Friedrichs Mercedes stand. Doch
auf der Höhe der großen Bühne vernahm Cosima
Graeff das Lied "A little less
conversation" von Elvis. Erinnert an ihre
frühere, heimliche Schwärmerei für den King of
Rock´n Roll, fühlte sie sich berufen endlich
die Etikette zu durchbrechen. Sie riss ihren
rechten Arm hoch, hielt mit der linken Hand ihren
Hut fest und begann sich wippend im Kreis zu
drehen. Friedrich Graeff versuchte seine Frau zu
bremsen, die ergriff jedoch seine Hand und
wirbelte ihn ausschweifend und bald ohne jede
Orientierung über die Wiese. Die anderen
Menschen sahen sich gezwungen auszuweichen und
ohne es gewollt zu haben standen Cosima Graeff
und ihr Friedrich plötzlich direkt vor der
Bühne.
Chiara applaudierte dem älteren Paar, das
seinen Tanz kurz vor ihr beendet hatte, erkannte
Hut und Perlenkette jedoch nicht wieder.
"Crazy die zwei Ollen.", kommentierte
Tine und kicherte zusammen mit Nicole. Chiara
kicherte nicht, sie war beeindruckt vom Auftritt
der alten Dame, die Lästereien und ihre
Freundinnen hingegen begannen sie zu langweilen.
Sie schaute Nicole und Tine an und erkannte in
ihnen nur eine langweilige Kopie ihrer selbst.
Alle drei trugen sie Klamotten von Pimkie und
H&M, Uniform des 21. Jahrhunderts, und in der
Hand hielten sie alle drei ein Kirschbier. In
diesem Moment nahm sie aus ihren Augenwinkeln
einen mittelgroßen Jungen wahr, der auf die
Bühne kletterte.
Mit diesem Manöver hatte Basti nicht
gerechnet und als Munition verblieb ihm auch nur
noch eine halbvolle Flasche Bier. Holger und Timo
hatten ihn auf die Bühne gehievt und vor dem
Pöbel blank gestellt. Er wollte den Rest seiner
Munition kippen, aber mit einem mal war ihm die
Bierflasche in seiner Hand fremd. Er sah jetzt
die Menschen, die begeistert vor der Bühne
tanzten und wünschte sich einer von ihnen zu
sein. Er legte das Bier nieder und versetzte
seinen Körper in rhythmische Bewegungen.
Chiara tat es ihm nach, ließ ihr Kirschbier
fallen und kletterte auf die Bühne. Tine und
Nicole versuchten noch sie zurückzuhalten, doch
Chiara war entschlossen einmal aus der Masse
herauszustechen.
Cosima Graeff war entzückt vom Elan der beiden
Jugendlichen, die plötzlich auf der Bühne
erschienen und unbeholfen aber mit Begeisterung
tanzten. Vielleicht konnte sie helfen. Sie
rückte ihren Hut zu Recht und entschlossenen
Schrittes näherte sie sich der Bühne. Von zwei
Jungen Männern ließ sie sich empor heben.
Zu dritt tanzten sie zu "Sexbomb"
von Tom Jones. Cosima Graeff hatte sich Basti
geschnappt und wirbelte, ihr Gesicht zu einer
Grimasse verzogen, mit ihm über die Bühne.
Mühsam hielt Basti mit ihr Schritt und schaute
zu Chiara, die gerade ihr Top ins Publikum
schleuderte und nur noch im BH auf der Bühne
stand. Sie schien nur eine dieser Teenie-Puppen
zu sein, aber ihr Verhalten machte Eindruck auf
Basti.
Chiara war kurz davor sich auch ihres BHs zu
entledigen, mittlerweile zaghaft angefeuert von
ihren Freundinnen, als zwei Sicherheitsleute auf
die Bühne rannten und Cosima Graeff, Basti und
sie von der Bühne drängten.
Schweigend standen die Drei voreinander und
wussten nicht wie es weitergehen sollte. Cosima
Graeff richtete Hut und Bluse, Chiara
verschränkte die Arme vor ihrem BH und Basti
starrte auf Chiaras Bauchnabel, bis er
schließlich sein T-Shirt auszog und es Chiara
anbot, die es sich dankbar überstreifte.
"Da hast du Glück junge Dame, ein echter
Gentleman." Cosima Graeff brach das
Schweigen. "Und kein schlechter Tänzer
dazu. Doch entschuldigt mich jetzt, ich muss
meinen Gatten suchen."
"Sollen wir Ihnen helfen?", fragte
Chiara.
"Vielen Dank, aber lasst mal. Kümmert euch
lieber um euch." Cosima Graeff ergriff die
Hände von Chiara und Basti und legte sie
ineinander. "Ich hatte sehr viel Freude an
diesem Abend, kehre jetzt aber in mein gewohntes
Leben zurück. Ihr dagegen habt noch Zeit etwas
anders zu machen."
Mit diesen Worten verschwand Cosima Graeff in der
Menschenmenge und Chiara schaute der alten Dame
verwundert hinterher. Bastis Hand schwitzte und
er wusste nicht, ob er Chiara loslassen sollte.
"Lass uns hier weggehen." Chiara
festigte ihren Griff um Bastis Hand.
"Und deine Freundinnen? Bist doch nicht
allein hier, oder?" Basti zögerte.
"Nö, Mädchen wie ich treten nie alleine
auf. Aber damit ist jetzt Schluss. Vergiss sie
einfach." Chiara entfernte sich
entschlossenen Schrittes aus der Nähe der Bühne
und Basti folgte ihr.
An einem Weiher ließen sie sich nieder und
küssten sich. Seit dem sieht man sie dort an
jedem zweiten Wochenende im Juni. Ungeschminkt
und ohne Bier - aber glücklich.
© Lars Rindfleisch
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