Geschichten
       
       
 

Der Einmarsch der alten Damen

An manchen Tagen, in so manchen Stunden werden große Leidenschaften geweckt, während man sich mit etwas ganz anderem beschäftigt und so keine Notiz von ihnen nimmt. Zumindest erging es mir so. Sie wollen bestimmt wissen welche Leidenschaft ich meine, und ich werde es Ihnen auch verraten. Aber nicht sofort. Zunächst möchte ich Ihnen von dem Tag erzählen, der diese Leidenschaft in mir auslöste. Wie alt ich damals war, weiß ich nicht mehr, sicher ist nur, dass ich noch ein Kind war. Doch lesen Sie!

Die Monster unter meinem Bett hatte ich gerade vertrieben, als sich neue Dämonen ankündigten. Ich sah mich ihnen hilflos ausgeliefert, denn der Verrat meiner Mutter war ausgemacht. Also schlug ich mich die Treppen nach unten und versteckte mich zwischen den Mülltonen. Dann sah ich sie kommen. Alte Damen mit grauen Haaren und entschlossenem Gesicht. Ihre Absicht war eindeutig. Ich machte mich auf meine Vernichtung gefasst.
Meine Mutter hatte sie zu sich geladen. Zu einem Kaffeekränzchen des Grauens. Angeblich standen sie alle in entfernter Verwandtschaft zu mir. Das jedoch wollte ich nicht glauben. Irgendwer musste meine Mutter getäuscht haben.

Kaum waren die alten Damen im Hauseingang verschwunden, kroch ich aus meinem Versteck, schnappte mir mein Fahrrad und sah mich zunächst einem neuen Feind ausgeliefert: der Langeweile.
Ich war fest entschlossen auf dem Hof zu verharren bis die alten Damen in die Flucht geschlagen wurden. Ich vergaß dabei nur, dass niemand außer mir sie vertreiben konnte.
Von solch unheilvollen Gedanken lenkte mich bald ein kleines Kreuz ab, das aus zwei Stöckchen bestand. Ehe ich mich versah, befand ich mich auf der Jagd nach geheimnisvollen Diamantenräubern. An jedem Tatort - die Mülltonne, der Tannenbaum, die Wäscheleinen - hinterließen die Täter genanntes Kreuz. Der Fall war klar, es handelte sich um Serientäter. Ich ganz allein hielt es in der Hand die Räuber zu überführen, denn die Polizei war viel zu blöd dafür. Es war Zeit für die Kinderpolizei. Bald fand ich das Versteck der Räuber, das durch ein großes Kreuz gekennzeichnet war. Dummerweise wurde auch ich entdeckt und das ausgerechnet von zwei Bandenmitgliedern. Wenigstens war ich so vor den alten Damen sicher. Doch mein Fahrrad, das ich am Straßenrand hatte stehen lassen, führte die Polizei recht bald zu mir und den Räubern. Die Polizei lieferte mich zu Hause ab und das Spiel war vorbei. Im zweiten Stock wartete das wahre Grauen und ich war verwegen genug, den Versuch zu wagen, mich in meinem Zimmer zu verstecken. Ein Fehler.
Es dauerte nicht lange bis meine Mutter mein Auftauchen bemerkt hatte und mich bat, den fremden Damen Guten Tag zu sagen. Doch eine Wahl hatte ich nicht. Ich tat meinen Unmut kund, ich vergrub mich unter meiner Decke, ich heulte - doch alles vergeblich. Das Recht auf freie Entfaltung meiner Persönlichkeit missachtend verschleppte mich meine Mutter ins Wohnzimmer. Und da saßen sie: Alte Damen mit Kaffee und Kuchen, auf den Lippen ein diabolisches Lächeln und bereit, jederzeit auf mich loszustürmen, um an mir rumzufummeln. Meine Mutter (oder das Wesen, das sich dem Körper meiner Mutter ermächtigt hatte) führte mich vor wie in einem Streichelzoo: Seht den kleinen weinenden Jungen und erstickt ihn mit eurem Mitleid!
Ich weiß nicht mehr wie ich aus dieser qualvollen Situation entkommen konnte. Ich erinnere mich nur daran, wieder auf meinem Bett zu liegen, blutleer und ausgesaugt.
Und die Zeit sorgte bald für Linderung meines gedemütigten Ich. Doch vergessen machte sie mich diesen Tag nicht und so behielt ich dankbarer Weise auch das Spiel mit Kreuz und Fahrrad im Gedächtnis.

Und bald erkannte ich, dass es mehr als nur ein Spiel gewesen war, es war eine Geschichte. Ich beschloss diese Geschichte niederzuschreiben. Und mit einem Mal war ich mehr wie ich bis zu jenem Zeitpunkt je gewesen war. Ich war Schriftsteller. Mit Bleistift und auf liniertem Papier hielt ich die ersten Sätze meines ersten Romans fest. Die letzten Sätze schrieb ich nie. Das Werk blieb unvollendet und mit den Jahren verschwand es unter alten Schulheften und anderem Papierkram, den man aufbewahrt aber nie wieder anschaut. Die Idee zu schreiben aber erlosch nie, nicht in meinem Kopf und nicht in meinem Herzen. Immer wieder flammte sie auf. Ein Krimi folgte den ich nie zu schreiben begann, dann eine Geschichte über die erste Liebe, auch sie blieb unvollendet. Irgendwann die erste Kurzgeschichte und dann endlich der erste vollendete Roman. Knapp hundert Seiten. Nicht viel, aber ganz allein mein.
Unterdessen hatte ich ein Fernstudium für kreatives Schreiben begonnen aus dem viele spannende und lustige Kurzgeschichten hervortraten. Die nächste Romanidee sagte auch bald Guten Tag und begleitet mich seit dem durch mein Leben.

All das geschah nur, weil ein paar unbekannte alte Damen an einem unbekannten Tag in mein Reich einmarschierten und mir für ein paar Stunden nichts anderes ließen als meine Fantasie. Sonst wäre ich vielleicht nie bis zu diesem Punkt gegangen, dem letzten Punkt hinter diesem Satz.

© Lars Rindfleisch

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