Geschichten
       
       
 

Der neue Lehrer

Das neue Schuljahr begann für mich mit einem Schock. Dietschi saß nicht am Steuer unseres Schulbusses. Seit meinem ersten Schultag vor drei Jahren hatte er jeden Morgen und jeden Nachmittag dort gesessen, nie war er krank gewesen. Plötzlich und ganz unerwartet traf mich der Anblick eines fremden Mannes, der es ganz offensichtlich beabsichtigte unseren Bus zu lenken. Aus seinem Hemd quollen Speckschwarten und unter seinen Achseln zeichnete sich ein ganzer See von Schweiß ab. Es konnte ihm nur mit viel Mühe gelungen sein sich hinter das Steuer zu quetschen. Dennoch gelang es ihm nicht den Platz von Dietschi auszufüllen. Es herrschte eine merkwürdige Leere in der Busfahrerkabine. Unschlüssig stand ich vor dem Bus und spielte mit meinen Zöpfen, dann stieg ich ein.

Dietschi hieß eigentlich Hannes Dietsch, aber so hatten wir ihn nie genannt. Er war sehr beliebt unter uns Schülern und so wunderte es mich, dass keiner der anderen sein Fehlen bemerkt zu haben schien. Meine Mitschüler redeten über die Ferien, scherzten und lachten. Ich dachte nur an Dietschi. Daran wie er mich stets mit einem Lächeln begrüßt hatte und dann den kleinen roten Schutzengel der auf der Ablage klebte angestoßen hatte. An die hellblauen Hemden, die er getragen hatte. Im Sommer kurz, im Winter lang. An die dunkelblaue Krawatte und die stets ordentlich gekämmten schwarzen Haare. Auch für Tiere hatte er gebremst, ich erinnerte mich an einen Igel, den er einmal von der Straße getragen hatte. Einen Unfall hatte er nie gebaut.
"Viel Spaß in der Schule Kinder!", hatte er immer gerufen nachdem er an der Schule gehalten hatte und wir nach draußen stürmten.
Kam ich dabei an ihm vorbei, hatte er mir oft zugezwinkert:
"Ganz besonders dir, junge Dame!"
Der neue Busfahrer entliess uns stumm aus dem Bus. Nur um sicher zu gehen, dass Dietschi nicht vielleicht doch vorne saß und ich mir alles nur eingebildet hatte, schlenderte ich beim Aussteigen an der Busfahrerkabine vorbei. Doch da saß immer noch der fette fremde Mann und biss in ein Sandwich aus dem Hinten Mayonnaise auf sein verschwitztes Hemd kleckerte.

In unserem Klassenzimmer herrschte große Unruhe. Wir sollten einen neuen Klassenlehrer bekommen und alle waren auf sein Erscheinen gespannt. Nur ich saß ruhig in der ersten Reihe und dachte an Dietschi.
Nie hätte er uns einfach so im Stich gelassen, etwas Schreckliches musste passiert sein.
Vielleicht wurde ihm von Haien an der Côte d'Azur ein Bein abgerissen und er konnte kein Bus mehr fahren. Aber gab es überhaupt Haie an der Côte d'Azur?
Vielleicht war er eines Morgens aufgewacht und konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass er Busfahrer war. Dann musste ich ihn schnellstmöglich darauf aufmerksam machen. Aber wo wohnte er?
Niedergeschlagen legte ich meinen Kopf seitlich auf den Tisch und starrte aus dem Fenster.
Auf einmal wurde es für kurze Zeit ganz ruhig in der Klasse und dann ging ein Raunen durch die Reihen der Schüler, gefolgt von großem Getuschel. Anscheinend hatte unsere neuer Klassenlehrer den Raum betreten, aber was kümmerte mich der schon. Ich dachte an Dietschi und schloss meine Augen.

"Junge Dame, darf ich dich aufwecken?", fragte schließlich eine mir sehr vertraute Stimme.
Ich schöpfte Hoffnung, war ich im Bus eingeschlafen und hatte alles nur geträumt? Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Ich befand mich immer noch im Klassenraum, aber vorne auf dem Lehrerpult stand ein kleiner roter Schutzengel und dahinter saß Dietschi und lächelte mich an. Seine schwarzen Haare waren wie immer ordentlich gekämmt, aber anstatt eines blauen trug er ein grünkariertes Hemd.
Er stellte sich als unserer neuer Klassenlehrer vor und erzählte, dass der Direktor ihn gebeten hätte, wie früher wieder zu unterrichten.
Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Für mich war Dietschi immer nur Busfahrer gewesen. Aber er würde ganz gewiss auch ein guter Lehrer sein.

"Viel Spaß in der Pause Kinder!", rief er als nach der zweiten Stunde der Gong ertönte.
Als ich dann an ihm vorbeischlenderte zwinkerte er mir zu:
"Ganz besonders dir, junge Dame!"

© Lars Rindfleisch

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