Geschichten
       
       
 

Teil 1

Melissa sah die blonde Frau mit dem schwarzen Sack zuerst. Zusammen mit ihrem Papa Steffen war sie am Biebricher Rheinufer aus dem Bus gestiegen. Die blonde Frau saß auf einer Mauer und schaute hinaus auf den Rhein.
"Lass uns die Frau da fragen, Papa!", sagte Melissa.
Steffen nickte und wand sich an die blonde Frau. "Wir wollen zur Rettbergsaue."
"Da unten.", antwortete sie mit überraschend tiefer Stimme, zeigte auf eine Anlegestelle unterhalb der Mauer und spuckte aus. "Da kommt auch das Schiff schon."
"Das klappt ja gut. Dankeschön!" Steffen schnappte sich seine Tochter und sie liefen nach unten zur Anlegestelle.
"Die Frau hat aber komisch gerochen. Was sie wohl in dem Sack drin hatte. Bestimmt etwas besonderes, so einen Sack habe ich zuvor noch nie gesehen." Melissa freute sich so sehr auf das Wochenende mit ihrem Papa, dass sie es nicht schaffte ihren Mund für eine Sekunde still zu halten.
Steffen lächelte nur und ließ sie weiterreden. An jenem Wochenende wollten er und Melissa zusammen auf die Rettbergsaue, eine kleine Insel im Rhein, um dort zu campen. Steffen hatte seine Sonnenbrille in sein kurzes schwarzes Haar gesteckt und einen großen blauen Reiserucksack aufgeschnallt. Er war 35 Jahre alt. Melissas Mama war schon gestorben, als Melissa nur wenige Monate alt war. Steffen zog seine Tochter seit dem alleine auf. Mittlerweile ging Melissa schon zur Schule und kam nach den Ferien in die vierte Klasse. Sie trug ebenfalls einen blauen Reiserucksack, der etwas kleiner als Steffens war, aber Melissa trotzdem noch fast überragte. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Genau wie ihr Papa trug sie ein weißes T-Shirt und eine beige Hose.
Unten angekommen blieben Melissa und Steffen neben dem noch verschlossenen eisernen Tor, das zum Steg des kleinen Fährschiffs "Tamara" führte, stehen und Melissas Blick fiel auf die komische Statue einer Frau mit hellblauem Top, kurzer blauer Hose, kleiner blauer Krone, blonden Haaren und einer merkwürdigen roten Knüppelnase, die auf der gleichen Mauer wie die blonde Frau mit dem schwarzen Sack saß.
"Papa schau mal, die Figur da auf der Mauer. Sieht sie nicht lustig aus. Die rote Nase, wie Miss Piggy." Melissa knuffte ihrem Papa in die Seite.
"Miss Piggy hatte ich aber anders in Erinnerung, doch wenn du meinst.", sagte Steffen und lachte.
Die "Tamara" legte an und Steffen und Melissa gingen an Bord des kleinen weißen Schiffes an dem vereinzelte rote Streifen und ein gelbes Dach auf der Fahrerkabine für wenige Farbtupfer sorgten. Es gab Sitzmöglichkeiten auf und unter Deck und verschiedene Fahnen wehten im Wind. Steffen bezahlte die Tickets und stieg mit Melissa aufs Deck.
Melissa setzte sich auf die erste freie Bank und amüsierte sich ein Weile über die ungewöhnliche rötlich-weiße Musterung und die vielen Fenster des Biebricher Schlosses, das man von Bord aus gut sehen konnte. Als sie genug hatte warf sie noch einen Blick zu der komischen Statue, musste aber feststellen, dass diese jetzt leider durch ein Schild verdeckt wurde. Stattdessen aber sah sie, wie die blonde Frau samt Sack von der Mauer sprang und im letzten Moment bevor die Tore geschlossen wurden, den Steg betrat und auch an Bord der "Tamara" ging. Sekunden später erschien sie auf Deck und begab sich auf einen Platz im Heck des Schiffes.
"Schau Papa, sie fährt auch mit." Melissa zeigte auf die blonde Frau. "Der Sack scheint schwer zu sein, so wie sie schnauft."
Die "Tamara" legte ab, fuhr eine kurze Kurve um zu wenden und steuerte anschließend direkt auf die gegenüberliegende Insel zu.
Melissa lief zur blonden Frau und musterte sie keck.
"Kennen wir uns?", fragte die Frau mürrisch.
"Ja von da draußen am Ufer.", fing Melissa fröhlich an zu plappern."Wir haben sie nach dem Weg gefragt, mein Papa und ich. Ich bin Melissa. Wie heißt du denn?"
"Sarah.", antwortete die blonde Frau.
"Was machst du auf der Rettbergsaue?", fragte Melissa.
"Du bist ganz schön neugierig."
"Stimmt, aber verrätst du mir wenigstens was du da in deinem Sack hast?"
"Du lässt deine Finger von dem Sack!", Sarahs Stimme wurde lauter, fast schrie sie.
"Ich hab doch nur ..." Melissa wich einen Schritt zurück.
"Manchmal ist es besser, wenn man seinen Mund hält. Wenn du dich nicht in acht nimmst ergeht es dir noch wie dem Mauerblümchen."
"Dem Mauerblümchen?"
"Ja, die Figur die am Ufer auf der Mauer sitzt."
"Ach Miss Piggy." Melissa lachte.
"Miss Piggy? Du solltest das Mauerblümchen nicht beleidigen." Sarahs Stimme schwankte zwischen bedrohlich und geheimnisvoll. "Sie war einst ein junges, hübsches Mädchen wie du und lebte auf der Rettbergsaue. Sie war glücklich und liebte die Insel. Zu ihrem Unglück aber hatte sie ein Laster, sie stellte zu viele Fragen. Irgendwann waren die anderen Inselbewohner der ganzen Fragen leid und sie wussten auch keine Antworten mehr. So haben sie das Mauerblümchen in die weite Welt hinausgeschickt. Erst dann sollte sie zurückkehren dürfen, wenn sie Antwort auf all ihre Fragen gefunden hatte. Mit jeder Antwort, die sie fand, kamen ihr aber neue Fragen in den Sinn, so dass sie nie zurückkehren durfte. Irgendwann wurde ihre Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Rettbergsaue so groß, dass sie sich am Ufer gegenüber der Insel auf eine Mauer setzte. Dort blieb sie sitzen, bis sie in einem kalten Winter über Nacht zu Stein wurde. "
"Daher also die rote Nase.", stellte Melissa fest.
"Ja vielleicht, und jetzt scher dich zu deinem Daddy. Das Schiff hält. Ich muss von Bord." Sarah ergriff Melissa an der Schulter. "Und schlag dir den Sack aus dem Kopf. Ist besser für dich!"

© Lars Rindfleisch

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