Nichts spricht mehr
Die S-Bahn ratterte über die Gleise. Ich saß
schlaff im hintersten Eck. Ließ meine Augen
müde über die junge Frau mit blondem
Kurzhaarschnitt wandern. Sie lehnte auf ihrem
Fahrrad und schaute aus dem Fenster. Jeder andere
im Zug schien sie zu übersehen. Dieser Mann mit
Anzug und grüner Krawatte etwa, der in einem
Ordner blätterte. Oder jene drei Frauen die
dicht beieinander saßenn. Jede mit Buch. Jede
versunken in einer anderen Welt. Kein Auge. Kein
Ohr. Für die realen Geschichten um sie herum.
Verständlich. Sie wollten träumen. Wie auch
ich. Mich aber wollte die Geschichte der blonden
Frau nicht in Ruhe lassen. Ich sah sie. Sah wie
sie mit einem Mal zu Boden sank. Sah das Fahrrad
fallen. Hörte es scheppern.
Sie hatte einen Orangensaft getrunken. Keine
halbe Stunde war es her. Das Gift in ihm hatte
sie nicht geschmeckt. Es wirkte trotzdem. Ich
wusste es. Hatte doch ich das Gift in den Saft
getröpfelt.
Der Zug stoppte am Wiesbadener Hauptbahnhof. Es
quietschte. Die Fahrgäste strömten hinaus.
Keiner beachtete die Frau am Boden. Sie war
unsichtbar. Sie war tot.
Ich erhob mich. Ließ mich neben sie sinken.
Langsam strich ich ihr über den Kopf. Mit der
anderen Hand griff ich nach meinem Flachmann.
Es hatte an einem regnerischen Tag in
Frankfurt begonnen. Ich saß in einem Café am
oberen Ende der Zeilgalerie. Mein Latte Macchiato
mit Zimtgeschmack begann langsam kalt zu werden.
Eine Taube saß vor dem Fenster. Sie sah anders
aus als die Tauben in Wiesbaden. Irgendwie. Unten
auf der Zeil stand eine Pantomime. Ohne Regung.
Erst als Jugendliche ihr eine Münze in den
Koffer warfen verbeugte sie sich. Reichte die
Hand. Ließ sich fotografieren. Nur kein Wort kam
über ihre Lippen. Ich nippte an meinem Glas.
Schaute auf das karierte Blatt vor mir. Ich hatte
schreiben wollen. Oder hatte ich anderes im Sinn?
Mit dem Gedanken mein Semesterticket auszunutzen,
war ich am Morgen in Wiesbaden in die S-Bahn
gestiegen.
An den leeren Tisch neben mir setzte sich eine
Frau. Sie hatte lange blonde Haare. War in meinem
Alter. Etwas jünger vielleicht. Sie saß da.
Fünf Minuten. Zehn Minuten. Der Kellner kam
nicht. Wiederholt hatte sie die Hand gehoben.
Aber der Kellner kam nicht. Er sah sie nicht. Sie
gab auf und verlor sich in den Wolken, die grau
am Frankfurter Himmel thronten. Ich rief den
Kellner. Wies zu der blonden Frau. Dankbar
lächelte sie. Meinem Blick wich sie aus. Ich
schaute auf meine Fingernägel. Dreck hatte sich
eingenistet. Ich starrte sie dennoch an. Dachte
an die Frau am anderen Tisch. Ich begann zu
glühen, lief rot an und begann zu lachen.
Lachen Sie nicht über mich, hörte ich sie
sagen. Nein. Das tat ich nicht. Aber ich schaute
sie erneut an. Das erste Mal fanden sich unsere
Augen. Sofort verliebte ich mich. Genau wie sie.
Ich setzte mich zu ihr. Vergaß meinen Latte
Macchiato. Stand wieder auf. Holte ihn. Setzte
mich zu ihr. Wir stellten uns vor. Sie hieß
Marianne. Ich August. Bedeutend mehr sprachen wir
nicht. Wenige Minuten später trennten wir uns
wieder. Ich küsste ihr auf die Wange. Ihre
Telefonnummer gab sie mir nicht. Meine wollte sie
nicht. Womöglich hätte ich fragen sollen.
In endlosen Schlangenlinien lief ich die
Zeilgalerie nach unten. Vorbei an kleinen Läden,
die ich nicht sah. Marianne nahm den Aufzug.
Rasch verschwand sie. Ich wollte weinen. Doch
hatte ich das schon als Kind verlernt. Ich trat
auf die Zeil. Wandte mich nach rechts. Hauptwache
fuhr mein Zug ab. Ich warf eine Münze in den
Koffer zweier Musikanten. Kletterte drei mal zu
den Bahngleisen hinunter und wieder hinauf. War
ich richtig hier? Ich wusste es nicht. Die S8
kam. Ich stieg ein. Es war die richtige Bahn. Sie
fuhr nach Wiesbaden. Richtiger aber noch war,
dass sie da saß. Marianne. Ihre Augen gerötet.
Sie hatte weinen können. Ich setzte mich zu ihr.
Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter. Kurz
darauf schlief sie ein. Ich blieb wach. Schaute
den vorbeirasenden Landschaften nach. Dachte an
nichts. War glücklich. Glücklich endlich einen
Menschen gefunden zu haben. Nie wieder wollte ich
Marianne verlieren.
In Wiesbaden fassten wir uns an den Händen.
Sprachen lange nichts. Erst an der
Bushaltestelle. Ich muss die Vier nehmen, sagte
sie. Ich auch, sagte ich und stieg ihr hinterher.
Sie schaute verunsichert. Ungläubig als ich an
der gleichen Haltestelle ausstieg. Sie lachte
mich aus, als ich auch in der gleichen Straße
wohnen wollte. Die gleiche Hausnummer. Ein
Hochhaus in einem Wiesbadener Vorort. In
Biebrich. Wir wohnten nur drei Stockwerke
auseinander. Wir hätten uns längst begegnet
sein müssen. Im Aufzug. Im Bus. Im Supermarkt.
Aber wir hatten uns nicht gesehen. Niemand sah
uns. Die Kassiererin im Supermarkt schaute ins
Leere, wenn ich ihr Geld gab. Liebende küssten
sich schamlos, obwohl ich im Aufzug stand. Der
Bus fuhr davon, wenn ich an der Tür wartete und
hinein wollte. Marianne ging es gewiss genauso.
Nur sie sprach nicht darüber. Ich tat es auch
nicht. Wir verabschiedeten uns im Aufzug. Ich
sagte, sie solle vorbeischauen, wann immer ihr
danach sei.
Am Abend schon stand Marianne vor meiner Tür.
Ich hatte eine Suppe auf dem Herd. Ich löffelte
sie vor ihr. Sie hatte schon gegessen. Dann
küssten wir uns. Schliefen miteinander. Für uns
beide war es das erste Mal. Aber wir sprachen
nicht darüber. Sie schlief noch als ich am
Morgen erwachte.
Wer war diese Frau? Ich wusste nur ihren Namen,
wo sie wohnte. Ich hatte keine Ahnung, was sie in
ihrem Leben machte. Es war Freitag Morgen. Musste
sie vielleicht längst auf der Arbeit sein. Oder
studierte sie? So wie ich es tat. War sie am Ende
ein graues Büromäuschen? Gleich als sie
aufwachte, fragte ich sie. Bankkauffrau. Ich
hatte sie unterschätzt.
Vielleicht war das der Anfang des Unglücks.
Der erste Fehler. Dem viele folgten.
Nach keinem Monat zogen wir zusammen. Die ersten
Wochen ging es gut. Sie kam Abends nach Hause und
wir schliefen miteinander. Machten Liebe. Immer
und immer wieder. Bis sie ihre Tage bekam.
Plötzlich mussten wir unser Schweigen aushalten.
Wir saßen uns gegenüber und schwiegen. Abend
für Abend. Ihre Tage gingen. Doch die Erkenntnis
blieb. Wir kannten uns nicht. Nicht wirklich. Ich
wollte sie küssen. Griff nach ihrer Wäsche.
Aber Marianne entzog sich.
"Wir müssen reden", sagte sie und
starrte auf den Küchentisch.
"Worüber denn", fragte ich.
"Wir müssen reden", wiederholte sie
nur.
Ich brauste auf: "Das habe ich
verstanden."
Sie schüttelte den Kopf. "Hast du
nicht."
Ich schwieg.
"Siehst du", schrie sie und sprang auf,
"so geht das nicht. Wir können nicht immer
schweigen."
"Wer sagt das?", fragte ich.
"Alle normalen Menschen sprechen
miteinander", sagte sie.
"Ich will aber nicht normal sein!",
rief ich.
"Ich ja auch nicht." Sie versuchte zu
lächeln. "Aber ich möchte dazu
gehören."
Zwei Wochen später zogen wir nach Frankfurt.
Mariannes Idee. Vielleicht finden wir uns dort
wieder, hatte sie gesagt. Dort wo alles begann.
Es machte alles nur schlimmer. Sie hatte sich in
eine andere Filiale versetzen lassen. Arbeitete
nur noch halbtags. Ließ sich die Haare
abschneiden. Dann begann sie vom Wetter zu
sprechen. Hoch Claudia. Tief Fabian. Sieht
Kachelmann nicht lustig aus.
Reicht es nicht, dass die Sonne scheint, fragte
ich.
Sprach sie nicht über das Wetter. Sprach sie
über das Schweigen. Wie es ihr Leben bestimmt
hatte. Nein. Nicht bestimmt. Verhindert. Es kam
mir alles so bekannt vor. Zu bekannt. Ich
flüchtete in die Fachhochschule. Blieb dort bis
spät Abends. Jeden Tag.
"Du läufst mir davon", sagte sie
"Nicht vor dir. Vor uns", antwortete
ich.
Eine Träne stand ihr im Auge. "Warum?"
"Wir gehen sonst aneinander zu Grunde."
Ich fing ihre Träne auf. "Vielleicht
sollten wir uns trennen."
Entsetzt schüttelte sie den Kopf. "Aber ich
liebe dich!"
"Ich dich doch auch", sagte ich und
küsste sie auf die Stirn.
Wir trennten uns nicht. Uns fehlte die Kraft.
Wir hatten kein anderes Leben. Niemanden der uns
auffängt.
Irgendwann ging ich nicht mehr in die
Fachhochschule. Blieb in unserer Wohnung.
Rasierte mich nicht. Duschte nicht. Aß nur
wenig. Marianne weinte immer öfter. Wir
schliefen nicht mehr miteinander. Sahen wir uns
an, schauten wir Beide ins Leere. Dennoch wollte
ich sie nicht aufgeben. Sie war das Einzige was
ich hatte. Und so ertrug ich schon den Gedanken
nicht. Sie aber stellte sich ihm schließlich.
"Ich kann es mir nicht länger
ansehen", sagte sie. "Ich liebe dich zu
sehr. Ich bin die Einzige die dein Leiden beenden
kann. Ich werde ausziehen."
So viele Sätze auf einmal. Sie wusste nicht,
was sie da sagte. Ohne mich würde sie über
Jahre dahinsiechen. Das konnte ich nicht
zulassen.
Ich recherchierte über Gifte. Dann. Am Abend vor
ihrem Auszug überfiel ich die Apotheke.
Marianne hatte sich schön gemacht für unsere
letzte Nacht. Sie trug ein blassblaues Kleid. Sie
verführte mich. Anschließend schaute sie mir
nicht mehr in die Augen. Angst blitzte in den
ihrigen.
"Frischgepresster Orangensaft." Sie
lächelte. "Warum erst jetzt?"
"Hätten wir es damit geschafft?",
fragte ich.
"Wer weiß." Sie zuckte mit den
Schultern. "Ich hätte es mir so sehr
gewünscht."
Sie wirkte so aufgeräumt am nächsten Morgen.
Tat ich ihr vielleicht Unrecht? Zu spät. Sie
trank den Orangensaft. Schnappte sich ihr
Fahrrad. Ich blieb zurück. Panik. Ich begann zu
rennen. Im letzten Moment hatte ich ihren Zug
erwischt. Sie hatte mich nicht gesehen.
Hatte sie mich bereits vergessen?
Ein letzter Kuss auf Mariannes bleiches
Gesicht. Ich nippte an meinem Flachmann.
Orangensaft. Sie hatte nicht ausgetrunken.
Langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Lautlos. Keine Passagiere. Kein Schaffner. Nur
Marianne und ich.
Und Schweigen.
© Lars Rindfleisch
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