Der einsame Tod
Es hätte ihn gar nicht geben dürfen. Doch es
gab ihn und Gloria sollte in jener Nacht seine
Bekanntschaft machen.
Gloria saß auf einem Felsvorsprung, hoch oben
auf einem Berg und schaute nach unten ins Tal.
Vor zwei Tagen war sie zwanzig geworden. Sie
hatte kurzes schwarzes Haar. Sie war schlank.
Ihre Gesichtszüge waren rund und gleichmäßig.
Hinter ihr stand das Zelt in dem sie übernachten
wollte. Alleine. Als Mutprobe. Sie wollte wissen,
ob sie der Zivilisation endgültig den Rücken zu
drehen konnte.
Die Sonne verabschiedete sich am Horizont und mit
der Dämmerung kam ein kühles Lüftchen auf.
Gloria fröstelte, so dass sich die Haare auf
ihrer weichen zartbraunen Haut aufstellten. Sie
zog Beine und Arme dicht an den Körper und
begann leise zu summen.
Bald zog der Mond am Himmel auf und warf ein
fahles Licht auf den Felsvorsprung. Gloria
beschloss, dass es Zeit sei zu schlafen. Sie
krabbelte in ihr Zelt und legte sich in ihren
Schlafsack, den sie sich bis über das Kinn zog.
Anschließend schloss sie die Augen.
Mit einem Schlag hörte sie all die Geräusche,
die sie bis zuvor nicht wahrgenommen hatte. Das
schrille Zirpen zweier Grillen. Das entfernte
Zwitschern eines Vogels. Das leise Rauschen des
Windes.
Plötzlich aber trat Stille ein. Gloria schlug
die Augen auf und erneut stellten sich ihre
Haare. Sie wand sich aus ihrem Schlafsack und
verließ das Zelt. Draußen sah alles aus wie
zuvor. Nur der Mond, war ein kleines Stück
weiter gewandert. Sein Anblick beruhigte Gloria.
Sie wand sich wieder zum Zelt.
Da stand er vor ihr.
Ein Wesen, dessen Anblick für das menschliche
Auge kaum zu ertragen war. Eine graue ledrige
Haut überzog seinen Körper, der von gelben
Narben überwuchert war. Sein Kopf war kahl, sein
Gesicht kantig und eingefallen. Die Lippen schmal
und weit nach unten gezogen. Doch das Schlimmste
war der Hass, der aus seinen Augen stach.
Entsetzt wich Gloria einen Schritt zurück und
begann zu weinen. Die Tränen liefen kalt über
ihr Gesicht und sie spürte nichts. Keine Trauer.
Kein Hass. Zu ihrer Überraschung aber auch keine
Angst. So begann sie zu rennen. Da hinter ihr der
Abgrund lag, direkt an dem unbekannten Wesen
vorbei, das sie problemlos hätte greifen
können. Aber es tat es nicht und lief Gloria
auch nicht hinterher, die flink ein Stück nach
oben kletterte.
Der Ork, denn um solch einen handelte es sich
bei dem Wesen, ließ sich einfach vor Glorias
Zelt nieder und wartete. Als wüsste er, dass
Gloria zurückkehren würde.
Es dauerte eine Minute bis Gloria bemerkte,
dass er ihr nicht folgte und sie ließ sich
außer Atem auf einem feuchten Stück Wiese
nieder. Von dort aus konnte sie ihren Zeltplatz
einwandfrei sehen. So auch den Ork, der von der
Ferne nicht gar so grässlich aussah. Seine
Schultern hatte er nach vorne gebeugt und sein
Kopf hing schlaff zur Seite. Fast sieht er
menschlich aus, dachte Gloria und sie konnte sich
dem Gefühl nicht erwehren, das langsam aber
bestimmt in ihr Aufstieg. Sie sah das Monster
nicht mehr, sie sah eine einsame Seele und sie
spürte Trauer, der bald das Mitleid folgte. Ihr
Verstand riet ihr weiter zu flüchten, doch ihr
Körper gehorchte nicht mehr. Sie begann mit dem
Abstieg.
Der Ork nahm zunächst keine Notiz von ihrer
Rückkehr und murmelte unverständliche
abgehackte Laute in sich hinein. Auf einmal aber
wand er seinen Kopf und machte einen Schritt auf
Gloria zu. Er stand nun so nah vor ihr, dass sie
seinen Atem spüren konnte, der nach Schwefel und
angebranntem Gummi roch. Gloria spürte wie sich
ihr Magen drehte, dann wurde es ihr weiß vor den
Augen und sie fiel in Ohnmacht.
Als sie mit noch geschlossenen Augen wieder zu
sich kam, wähnte sie sich bereits im Himmel.
Doch dann spürte sie einen knochigen Finger
über ihre Lippen wandern und öffnete die Augen.
Der Mund des Orks näherte sich ihr. Sie schrie
und besiegelte so ihr Schicksal. Die scharfen
Zähne des Orks bohrten sich in ihren Hals. Er
hatte sie nur küssen wollen.
Gloria starb.
Langsam zog der Ork seine Zähne aus dem
zarten Fleisch Glorias und zwischen das Blut, das
aus seinem Mund tropfte, mischten sich gelbliche
Tropfen, die aus seinen Augen kullerten.
Ungläubig betrachtete der Ork Gloria. Ihre
Schönheit erstaunte ihn. Behutsam fuhr er ihr
mit seiner schmalen Hand über die trockene
Wange, erneut über die weichen Lippen und
schloss letztlich ihre Augenlider. Anschließend
nahm er die Leiche in die Arme und trug sie zu
dem Felsvorsprung, auf dem Gloria vor wenigen
Stunden noch gesessen hatte. Dort setzte sich der
Ork und legte Glorias Leiche über seine nackten
Beine. Sie duftete gut nach Lavendel und ein
wenig Schweiß.
Wie ein Leben mit ihr wohl ausgesehen hätte,
fragte sich der Ork und schüttelte seinen
Schädel. Es hätte kein Leben mit ihr geben
können. Die Menschen waren sehr auf
Äußerlichkeit bedacht. Er hasste diese Welt. Er
war zu hässlich für sie, und er war der
Einzige.
Die Orks existierten längst nur noch in den
Fantasygeschichten der Menschen. Sie waren nur
noch unwirkliche Gestalten vor denen es sich zu
gruseln galt. Einzig ihre Hässlichkeit entsprach
uneingeschränkt der Wahrheit.
Unser Ork aber war vollkommene Realität und er
war der letzte seiner Gattung. Er war über 400
Jahre alt, was auch für einen Ork ein
ungewöhnliches Alter war. Doch als er vor 364
Jahren den Kontakt zu seiner Familie verloren
hatte, hatte er sich am Leben festgeklammert, in
der Hoffnung eines Tages ein Wesen zu finden mit
dem er zusammen leben konnte. Diese Hoffnung war
in jenem Moment gestorben, als sich seine Zähne
in Glorias Hals senkten.
Der Ork wartete auf die Sonne. Sie konnte ihn
nicht töten, aber sie schwächte ihn. So kam es
dann, dass der Ork kurz nach Sonnenaufgang nach
vorne kippte und über den Felsvorsprung fiel.
Glorias Leiche zog er mit sich.
Niemand sollte die beiden vermissen.
© Lars Rindfleisch
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