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Die kleine Schildkröte

Es war ein besonderer Tag im Leben der kleinen Schildkröte, denn an diesem Tag feierte sie ihren 50. Geburtstag. 50 Jahre war gewiss noch kein Alter, ihre Mutter hatte die 500 schon vor einigen Jahren überschritten, dennoch war es ein ganz besonderer Geburtstag im Leben der kleinen Schildkröte. All ihre Freunde und Verwandte waren geladen um sie in einen neuen Abschnitt ihres Lebens zu begleiten, ach was das ganze Dorf war geladen. Denn mit 50 Jahren begann die schönste Zeit im Leben einer Schildkröte. Den Kinderflossen entwachsen durfte eine Schildkröte dann endlich für sich selbst Verantwortung übernehmen und eigene Wege gehen. Unsere kleine Schildkröte hatte beschlossen ihre neue Freiheit sogleich auszunutzen und schon am nächsten Tag zu einer Reise aufzubrechen. Bisher hatte sie noch nicht allzuviel von der Welt gesehen, denn bisher war es ihr nicht gestattet gewesen die Grenzen von Turtleton zu überschreiten. Doch ältere Freunde und Verwandte hatten ihr schon viel von der Welt außerhalb erzählt und so konnte sie es kaum erwarten diese jetzt endlich selbst zu entdecken. Unsere kleine Schildkröte war übrigens keine sie, wie man jetzt fälschlicherweise denken könnte. Sie, die kleine Schildkröte, war ein er und hörte auf den Namen Hari. Der Name Hari stammte aus dem Indischen und bedeutete unter anderem "grün", passte also sehr gut zu ihm, denn Hari war schon seit seiner Geburt eine ganz besonders grüne Schildkröte gewesen und wurde von allen anderen um seinen leuchtend grünen Panzer beneidet.

An diesem, seinem Ehrentag, hatte er seinen Panzer ganz besonders herausgeputzt und da es ein wunderschöner Sonnentag war, konnte man in fast ganz Turtleton das Schimmern seines Panzers erkennen. Von allen anderen Schildkröten wurde er an diesem Tag bewundert wie nie zuvor, aber an diesem Tag war in den Blicken keine Spur von Neid zu erkennen, alle freuten sich mit ihm. Denn für alle Schildkröten Turtletons war es immer wieder etwas Besonderes, wenn einer der ihren das 50. Lebensjahr erreichte. Die Älteren erinnerten sich dann an ihren eigenen 50. Geburtstag und erzählten den Jüngeren, was für verrückte Sachen sie mit ihrer neuen Freiheit angestellt hatten. Besonders viele Schildkröten scharrten sich dann immer um Alec und Chris, die beiden schrägen Alten, die trotz ihres schon hohen Alters immernoch jede Menge Unsinn im Kopf hatten. Vor 756 Jahren wurden sie zufällig am gleichen Tag geboren und als sie sich fünf Jahre später zum ersten Mal in der Schildkrabbelgruppe trafen, waren sie sofort unzertrennlich. Weitere 45 Jahre später überschritten sie dann gemeinsam die 50 Jahre Grenze und der Geburtstag dieser Beiden sollte in ganz Turtleton unvergessen bleiben. Die Gäste waren schon alle versammelt, doch die beiden Geburtstagskinder waren nirgends aufzufinden. Gerade als sich die versammelten Schildkröten auf die Suche nach den Beiden begeben wollten, wurde die Festtafel durch zwei Schatten verdunkelt und vom Himmel schwebten Alec und Chris. Sie mussten schon früh an ihrem Ehrentag aufgebrochen sein und die Grenzen Turtletons verlassen haben, denn sie schwebten an Schwebeballons heran und solche konnte man nur in der Welt außerhalb finden. Beide waren noch nie zuvor mit Schwebeballons geflogen und so kam es wie es kommen musste. Kurz über der Festtafel verlor Alec die Kontrolle, kollidierte mit Chris und beide plumpsten direkt in die riesige Geburtstagstorte. Das sorgte für große Erheiterung unter den Gästen, weniger aber bei Alec und Chris. Doch die beiden ließen sich ihren Spaß nicht nehmen und fingen an mit der Torte nach den anderen zu schmeißen und wenig später war eine wilde Tortenschlacht im Gang. Im Laufe dieser Schlacht nahm aber nicht nur die Torte enormen Schaden. Zuerst stürzte der Tisch ein, als alle auf die Torte losstürmten, dann zerbrachen Teller und Gläser und gegen Ende badeten gar ein paar Schildkröten im Wildbeerenpunsch. Von dem Festessen blieb also nicht mehr viel übrig, aber an diesem Tag kümmerte das keinen. Denn an einem 50. Geburtstag wurden selbst die ältesten Schildkröten wieder zu Kindern und waren in diesem Fall diejenigen, die sich am stärksten an der Tortenschlacht beteiligten. Wenn Alec und Chris an einem 50. Geburtstag mal wieder von dieser Tortenschlacht erzählten, mussten sie aufpassen, dass die Jüngeren nicht sogleich die Geburtstagstorte stürmten. Denn wenn es an einem 50. Geburtstag auch wenige Regeln gab, so war eine, dass eine Tortenschlacht nur von dem Gebrutstagskind selbst angefangen werden durfte, denn schließlich war es ja dessen Torte.

Von daher standen die Chance für eine Tortenschlacht an diesem Tag eher schlecht, denn Hari, die kleine Schildkröte, liebte Torten viel zu sehr und er hatte sich extra eine Mohnblumentorte gewünscht. Mohnblumentorte war seine absolute Lieblingstorte, die es allerdings nur zu ganz besonderen Anlässen gab, denn Mohnblumen waren schwer zu bekommen, da sie nur außerhalb Turtletons wuchsen. Wenn Hari mal nicht von einer riesigen Mohnblumentorte träumte, dann dachte er an diesem Tag meist an seine beste Freundin. Nur für sie hatte er seinen Panzer heute so schön herausgeputzt, denn heute war der letzte Tag an dem sie für längere Zeit zusammen sein würden. Sie konnte leider nicht mit auf seine große Reise in die Welt außerhalb kommen, da sie gerade mal 44 Jahre alt war. Sie kannten sich jetzt schon seit 27 Jahren und hatten seit dem fast jeden Tag zusammen am Strand verbracht und die Wellen beobachtet. Die Beiden waren also echte Sandstrandfreunde und die Vorstellung, dass er für längere Zeit nicht mehr neben Marie am Strand liegen könnte stimmte ihn traurig. Doch die Reise bedeutete ihm soviel, dass er nicht noch weitere sechs Jahre warten wollte, bis Marie mitgedurft hätte und Marie verstand das. Ihre Freundschaft war stark genug um das zu verkraften. Zudem gab es die Flugboten, die zwischen Turtleton und der Welt außen verkehrten und Hari und Marie konnten so per Flugpost in Kontakt bleiben. Flugboten waren übrigens nichts anderes als Schidlkröten, die mit Hilfe großer Schwebeballons, schnell weite Strecken zurücklegen konnten.

Auch ohne Tortenschlacht wurde es ein wunderschönes Fest. Nachdem Hari drei große Stücke seiner Geburtstagstorte wegeputzt hatte und er endlich wieder an was anderes denken konnte als an seine wunderschöne, riesige, leckere Mohnblumentorte, suchte er all seine Freunde zusammen und tobte mit ihnen den ganzen Tag durch die Gegend. Gegen Abend hatten sie alle schon viel (wahrscheinlich zuviel) vom Wildbeerenpunsch getrunken und mischten das Fest mit verrückten Tanz- und Gesangeseinlagen auf. Das versammelte Dorf hatte ebenfalls schon zu viel Wildbeerenpunsch getrunken und beteiligte sich begeistert am Singen und Tanzen. In dem ganzen Trubel merkte keiner, dass schon kurz vor Tagesende Hari verschwunden war. Auch Marie bemerkte sein Fehlen erst als er schon eine Weile fort war. Zuerst suchte sie ihn unter den singen und tanzenden Schildkröten, aber alle hatten ihn schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Der Gedanke, dass er gegangen sein könnte ohne ihr tschüß zu sagen stimmte sie traurig und alle Freude am Fest war ihr schnell vergangen. Sie begab sich zum Strand, wo beide die meiste Zeit miteinander verbracht hatten, in der Hoffnung Hari dort anzutreffen. Der Strand schien leer, doch dann sah sie eine Schildkröte, die am Strand lag und ihren Blick in die Ferne schweifen ließ. Ihre Freude war groß als sie erkannte, dass es Hari war. Doch sie hielt sich zurück und legte sich einfach neben ihn in den Sand ohne ein Wort zu sagen. Hari sagte auch nichts, sondern lächelte sie nur an. Mehr war auch nicht nötig, denn in seinem Blick konnte sie sehen, dass er beschlossen hatte, noch vor der Morgendämmerung aufzubrechen. Er hatte am Strand nur noch auf sie gewartet und schon befürchtet, dass sie ihn doch nicht suchen würde, daher war er sehr froh als er sie neben sich auftauchen sah. Sie lagen noch eine Weile nebeneinander und vergaßen dabei die Zeit, so wie sie es schon oft gemacht hatten. Als die Sonne dann aber langsam aus dem Meer herausschaute brach Hari auf. Marie war sehr traurig, aber sie lächelte als er sie ein letztesmal ansah. Dann als er am Horizont entschwunden war fing sie an zu weinen, doch da sie sehr müde war fiel sie bald in einen angenehmen Schlaf und träumte von den Tagen mit Hari.

Hari selbst erging es nicht viel anders. Auch er war traurig, freute sich aber auf sein bevorstehendes Abenteuer. Doch noch bevor er die Grenzen Turtletons überschritt schlief er ein und träumte von Marie, Mohnblumen, und Schwebeballons. Als er aufwachte atmete er nocheinmal kräftig ein und überschritt dann die Grenzen Turtletons. Sogleich atmete er nocheinmal tief ein, um festzustellen, ob in der Welt außen eine andere Luft herrschte. Womöglich hätte niemand anders einen Unterschied festgestellt, doch für unsere kleine Schildkröte roch die neue Luft nach Abenteuer, während die andere nach Heimat gerochen hatte. Hari lächelte, endlch war er fünfzig und fühlte sich keinen Tag zu jung oder zu alt. Sein Leben würde nun erst richtig losgehen!

So begann die Reise der kleinen Schildkröte, sie erlebte viele Abenteuer und sah aufregende Dinge. Aber das ist eine andere Geschichte . . .

© Lars Rindfleisch

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