Geschichten
       
       
 

Teil 4

Sarah fuhr herum zu Melissa. "Du bist dran Schuld! Währst du mir nicht gefolgt würde dein Vater nicht auch noch dort liegen. Erst Leo, der arme Leo, dann folgte mein Vater. Er hatte den Rest der zerbrochenen Bierflasche noch in der Hand mit der er zugeschlagen hatte, als ich mich nach Leo beugte, und er lachte. Wütend sprang ich auf und stieß ihn weg. Besoffen wie er war kam er ins Torkeln und stürzte mit seinem Gesicht in die scharfen Kanten der zerbrochenen Bierflasche. Dann hab ich Leo genommen, ihn in den schwarzen Sack gesteckt und bin abgehauen. Und jetzt, jetzt liegt auch noch dein Vater da."
"Mir geht es gut.", erklang Steffens Stimme etwas gedämpft. "Nur mein Fuß ist verstaucht."
"Papa!", Melissa sprang auf und Sarah folgte ihr. Gemeinsam halfen sie Steffen beim Aufstehen. Der Regen ließ langsam nach.
"Gut, dass ich Sie nicht mit der Bierflasche erwischt habe." Steffen schaute zu Sarah und sah ihr das erste Mal direkt ins Gesicht. Melissa hatte Recht sie war noch sehr jung. Zwanzig Jahre vielleicht. Und unter dem verschmutzten Gesicht war sie auch sehr schön. "Was ist mit dem Hund da passiert?", fragte er. "Ist das Leo?"
"Ja." Sarah begann erneut zu weinen. Steffen ging zu ihr und legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie aber riss sich los. "Nein, Sie sollten das nicht tun. Ich habe mein Vater umgebracht."
"Wer sagt Ihnen, dass er tot ist? Den Sturz in die scharfen Kannten einer Glasflasche kann man durchaus überleben.", sagte Steffen.
"Sein ganzes Gesicht hat geblutet.", schluchzte Sarah. "Er ist tot."
"Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Sie sollten versuchen ihn anzurufen." Steffen zog sein Handy aus der Hosentasche.
"Es ist mitten in der Nacht, ich kann das nicht.", sagte Sarah.
"Falls er tot ist wie Sie sagen wird ihn das auch nicht mehr stören. Soll ich für Sie anrufen?" Steffen gab nicht nach.
Sarah griff nach dem Handy, wählte die Nummer ihres Vaters, und gab es zurück an Steffen. Gespannt musterte sie danach sein Gesicht. Zunächst zeigte er keine Regung. Plötzlich aber erstarrte sein Blick und er legte auf ohne ein Wort gesagt zu haben.
"Ihr Vater heißt Horst?", fragte er. "Horst Mellenkamp?"
Sarah nickte nur.
"Er lebt." Steffen schwieg einen Moment, aber man sah ihm an, dass ihm etwas anderes noch keine Ruhe ließ.
"Was ist?", fragte Melissa.
"Haben Sie zufällig eine Schwester?", wand sich Steffen an Sarah.
"Ich hatte, sie hieß Victoria.", antwortete sie.
Plötzlich verstand auch Melissa. "Victoria ist das Mauerblümchen?", rief sie entgeistert.
"Ja, aber." Sarah konnte nicht mehr folgen.
"Papa, warum hast du nie was gesagt, dass sie auf der Rettbergsaue gelebt hat?", fragte Melissa.
"Ich wusste es nicht, Kleine." Steffen schlug die Hände vors Gesicht. "Sie hat nie davon gesprochen. Warum aber ist Victoria das Mauerblümchen?"
Melissa lächelte. "Sarah hat mir eben erzählt, dass das Mauerblümchen ihre Schwester war. Sarahs Schwester war Victoria. Und Victoria ist, sie war meine Mama!"
"Seid ihr euch da sicher?" Sarah schaute ungläubig.
"Ziemlich sicher.", erklärte Steffen. "Sie hat nie viel über ihre Vergangenheit gesprochen. Nur zwei Namen erwähnte sie ab und an - Sarah und Leo. Die Beiden, also dich Sarah und deinen Hund, traf sie wohl manchmal. Sie war oft traurig schon als ich sie kennerlernte, aber ich liebte sie und als sie schwanger wurde dachte ich, mit der Geburt des Kindes würde ihre Traurigkeit vielleicht verfliegen. Doch nach Melissas Geburt zog sie sich noch mehr zurück. Sie war oft nachts weg, ohne dass ich wusste wo sie war. Ich fand mich damit ab, auch wenn es mich genauso traurig machte. Eines Nachts im Winter blieb sie allerdings verschwunden. Die Polizei fand sie auch nicht."
"Du hast mir immer erzählt sie sei Tod!" Melissa war überrascht über das, was ihr Papa erzählt hatte.
"Vergiss nicht, sie ist das Mauerblümchen. Sie ist fort von uns gegangen. Die steinerne Figur ist nur noch ein schwaches Abbild von ihr.", flüsterte Sarah. "Leo und ich haben sie ab und an besucht, wenn sie drüben in Biebrich auf der Mauer am Rheinufer saß. Auch in jenen Winternächten. Zuvor allerdings hat sie sich fast ein Jahr nicht blicken lassen. Sie wollte wohl nicht, dass ich erfahre, das sie schwanger ist." Sarah fing wieder an zu weinen.
Steffen legte erneut einen Arm um ihre Schulter und diesmal schüttelte sie ihn nicht ab. So blieben sie eine Weile stehen, dann schaufelte Steffen Leos Grab zu. Gemeinsam gingen sie zurück zur Campingwiese und setzten sich in Melissas und Steffens Zelt. Melissa schlief bald in Steffens Armen ein.
Als sie am nächsten Morgen erwachte saßen Sarah und Steffen vor dem Zelt. Ihre Augen waren übermüdet und es schien als hätten sie sich den Rest der Nacht über unterhalten. Wahrscheinlich hatten sie über Victoria gesprochen, dachte Melissa. Sie aber interessierte noch eine ganz andere Sache.
"Wie hast Du uns heute Nacht eigentlich im Wald gefunden, Papa?", fragte sie.
"Ich war im Vereinsheim und hab ein paar Bier getrunken. Als ich hierher zurückkam warst du verschwunden. Ich fing an dich zu suchen und irgendwann hörte ich einen leisen Schrei aus dem Wald. Ich folgte ihm und so fand ich zu euch.". Steffen nahm Melissa in den Arm.
Eine Stunde später verließ Sarah mit der ersten "Tamara" des Tages die Rettbergsaue. Steffen und Melissa umarmten sie zum Abschied. Anschließend verschwand Sarah Richtung Mauerblümchen. Steffen schaute ihr verträumt hinterher.
"Ob wir sie je wiedersehen?", fragte Melissa.
"Bestimmt.", sagte Steffen. "Sie will sich bei mir melden, sobald sie ihr Leben geordnet hat."
"Papa, weißt du was?" Melissa schaute Steffen an. "Ich glaube Sarah ist tatsächlich eine Hexe."
"Ach ja, wie kommst du darauf?", fragte Steffen.
"Weil sie dein Herz verzaubert hat!" Melissa schmunzelte.

© Lars Rindfleisch

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